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Europäische Union

Die Eurobombe: Kann die EU über eine eigene nukleare Abschreckung verfügen?

19.02.2024

Medienberichte häufen sich momentan zum Thema Atomwaffen für Europa. Aber Details sind mangelhaft, die Aussagen sind oft vage und eher Meinungen als fundierte Vorschläge. Was genau ist gemeint, wenn von der „Eurobombe“ die Rede ist?

Immer wieder wurde in Europa die Frage gestellt, was wäre, wenn die USA im Falle eines Atomangriffes auf Europa doch nicht ihre Städte und Bevölkerung riskieren will? Jetzt wird die Angst davor noch größer, weil Donald Trump in den Umfragen für die nächste Präsidentenwahl führt. Er stellte am 10. Februar 2024 bei einer Wahlkampfveranstaltung in South Carolina Artikel 5 des Nordatlantikvertrags in Frage, als er meinte, er würde NATO-Mitglieder nicht „beschützen“ wollen, wenn sie „ihre Rechnungen nicht bezahlen“. Er würde „sogar den Gegner ermutigen, zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen“.

Die Frage der europäischen Verteidigung mit Atomwaffen wird oft als Antwort aufgeworfen. Dabei wird die nukleare Abschreckung selbst als Sicherheitskonzept in den Medien nicht in Frage gestellt oder analysiert, sondern nur die Frage, welcher Staat den so genannten nuklearen Schirm bieten könnte, wenn die USA sich zurückzieht. Es kommen hier mehrere Möglichkeiten zur Sprache: Deutschland könnte selbst Atomwaffen bauen oder erwerben, oder Frankreich oder Großbritannien (oder beide zusammen) könnten mit ihren Atomwaffen die Abschreckung für ganz Europa übernehmen.

Katarina Barley (SPD) sagte in einem Interview im Tagesspiegel zur Frage eigener Atombomben der EU: „Auf dem Weg zu einer europäischen Armee kann also auch das ein Thema werden.“ Auch der grüne Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky sagte in einem FAZ-Interview bereits im Dezember, nachdem der ehemalige Außenminister Joschka Fischer die Eurobombe forderte, dass es nichts bringt, „die Fragestellung zu tabuisieren, sonst stehen wir im entscheidenden Moment wieder überrascht oder überfordert da.“ Allerdings plädierte keine*r dieser beiden MdEPs direkt für die Anschaffung einer nuklearen Abschreckung für die EU, sie forderten nur die Diskussion.

Deutlicher positionierte sich hier der Europaabgeordnete und Fraktionsvorsitzende der größten Fraktion im Europäischen Parlament EVP, Manfred Weber (CSU), der klipp und klar Atomwaffen für Europa fordert: "Europa muss militärisch so stark werden, dass sich keiner mit uns messen will", sagte er der "Bild"-Zeitung. "Dies bedeutet, wir brauchen Abschreckung. Zur Abschreckung gehören Nuklearwaffen."

Was würde eine nukleare Abschreckung im Rahmen der EU bedeuten? Sollen diese dann nur EU-Mitglieder „schützen“? Wer würde über die Atombomben verfügen und wer hätte Mitspracherecht? Wie passt das zusammen mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der EU-Mitgliedsstaaten, etwa unter dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) oder Atomwaffenverbotsvertrag (AVV)?

Im Rahmen der NATO gibt es bereits die Abmachung aus der 1974 Ottawa Erklärung, dass die europäischen Atommächte in der NATO – sprich Frankreich und Großbritannien – ihre Atomwaffen neben denen der USA für die nukleare Abschreckung der NATO zur Verfügung stellen. Auch hier gibt es offene Fragen, die zu beantworten sind, vor allem zum Mitspracherecht bei der Einsatzentscheidung.

Im Februar 2020 hielt der franzöische Präsident Macron eine Rede, in der er sein Interesse an einer strategischen Rolle der atomaren Abschreckung in Europa bekundete und interessierten EU-Staaten anbot, an Übungen des französischen Militärs zur nuklearen Abschreckung teilzunehmen. Er machte deutlich, dass er anderen Staaten dabei keine Hoheit oder Mitspracherechte über die Force de Frappe anbieten würde.

Dennoch läuft die deutsch-französische nukleare Kooperation bereits: das große Rüstungskonzept FCAS (Future Combat Air System) enthält eine nukleare Komponente. Das System soll Frankreichs luftgestütztes Rafale-Atomwaffensystem ersetzen. Manche Expert*innen meinen, dass dieses ein Grundpfeiler für eine neue Art nuklearer Teilhabe darstellen könnte.

Seit Jahrzehnten wiederholt sich die Debatte um eine deutsch-französische Atomwaffenpolitik. Schon in den 1960er Jahren bot der französische Präsident Charles de Gaulle dem Bundeskanzler Ludwig Erhard eine Beteiligung am französischen Nuklearprogramm an. 2007 schlug auch Nicolas Sarkozy Angela Merkel die Teilhabe vor, gegen einen finanziellen Beitrag. Die Bundesrepublik zeigte öffentlich nie Interesse, auch nicht an der Beteiligung an Macrons nuklearen Übungen.

Nun hat der ehemalige deutsche Botschafter Eckhard Lübkemeier in der FAZ einen „Plan B“ für Deutschland vorgeschlagen. Er meint, der Aachener Vertrag vom Januar 2019 sei für eine „Rückversicherung“ nutzbar. In Artikel 4 des Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich heißt es: „Sie leisten einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein.“ Deutschland soll laut Lübkemeier Macrons Angebot von 2020 aufnehmen und klären, ob dann diese Beistandsklausel die nuklearen Streitkräfte Frankreichs umfassen würde. Für ihn wäre auch die Stationierung französischer Atomwaffen ohne deutsche Verfügungsgewalt denkbar.

Also ein glatter Austausch US-amerikanischer Atombomben gegen französische? So einfach wäre das nicht. Deutschland ist Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags und hat sich unter Artikel II verpflichtet, keine Atomwaffen anzunehmen. Auch wenn sich die Bundesregierung auf einem alten und rechtlich umstrittenen Vorbehalt bei der Unterzeichnung des NVV im Jahr 1970 beruft, der die damals bereits bestehende nukleare Teilhabe für zulässig erklärte, wäre ein komplett neuer nuklearer Verteidigungspakt mit Frankreich samt Stationierung von Atomwaffen gewiss nicht zulässig.

Bereits 2017, als Donald Trump sich zum ersten Mal widersprüchlich zur NATO äußerte, widmete sich der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages dem Thema einer nuklearen europäischen Abschreckungsstrategie. Hier ging es vordergründig um die Mitfinanzierung der Modernisierung der französischen und britischen Atomwaffensysteme. Die Gegenleistung – eine Art nukleare Teilhabe – müsse hierbei geklärt werden. Bisher gebe es keine offizielle deutsche Staatspraxis zur Finanzierung ausländischer Nuklearwaffensysteme, sie sei aber rechtlich nicht auszuschließen. Hierbei erwähnte der wissenschaftliche Dienst nicht, dass die in Deutschland bestehende Stationierungsinfrastruktur und die Trägersysteme für die US-Atombomben im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO ausschließlich von Deutschland bezahlt wird. Erwähnt wurde dennoch die deutschen Ko-Finanzierung von israelischen U-Booten, von denen die Vermutung bestand, dass sie nuklearwaffenfähig sei.

Die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands unter dem NVV und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag wurden im Papier berücksichtigt. Hier vertrat der wissenschaftliche Dienst die Meinung, dass die nukleare Teilhabe nicht gegen den NVV verstoßen würde. Diese Aussage wurde im Sachstand 2022 wiederholt. Allerdings argumentieren andere Jurist*innen das Gegenteil: Beispielsweise schreibt Bernd Hahnfeld, dass die geplante Übertragung der Verfügungsgewalt auf deutsches Militärpersonal im Ernstfall sehr wohl einen Verstoß gegen den NVV darstellt und die erklärten Vorbehalte der Bundesregierung diese Tatsache nicht aufhebt: „Sie betonen nur, dass Deutschland weiterhin dem kollektiven Sicherheitssystem der NATO verpflichtet bleibt. Die Erklärungen bezeichnen die Waffen nicht, mit denen nach den kollektiven Sicherheitsregeln der NATO der Schutz der Bundesrepublik gewährleistet werden sollte.“ Es sei also möglich, nur konventionelle Mittel für die Verteidigung einzusetzen, so Hahnfeld.

Seit dem Brexit gilt die militärische Beistandsklausel des EU-Vertrags von Lissabon nicht mehr für Großbritannien, also kann man das Land nur über die NATO-Mitgliedschaft in die europäische nukleare Abschreckung einbinden. Dennoch gibt es auch hier offene Fragen: Das so genannte „unabhängige“ britischen Atomwaffensystem Trident gehört den USA und wird von ihnen gewartet. Es ist nur gemietet. Daher ist es nicht sicher, dass Großbritannien unabhängig von den USA ihre Atomwaffen tatsächlich einsetzen kann.

Einige deutsche Sicherheitsexpert*innen meinen, dass die Debatte über eine „Eurobombe“ in den Medien nicht bedeutet, dass etwas Materielles geschehen muss. Es gehe hier um die Signalwirkung. Indem man über eine europäische nukleare Abschreckung redet, auch vage und ohne Details, schicken die Europäer*innen in zwei Richtungen ein Signal. Zum einen an die USA, dass die europäische Souveränität gegeben sei, man kann die bestehenden Potentiale für nukleare Abschreckung weiter ausbauen. Zum anderen an Russland, dass auch mit einem Rückzug der USA Europa sich verteidigen könnte. Allerdings lassen die widersprüchlichen Aussagen und wilden Spekulationen über das Thema diese Signale möglicherweise kontraproduktiv wirken.

Im Sachstand 2017 des wissenschaftlichen Diensts wird ein noch nicht bestehendes Atomwaffenverbot erwähnt, das inzwischen in Kraft getreten ist. Drei EU-Mitglieder sind dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) beigetreten: Irland, Malta und Österreich. Falls es tatsächlich zu einer konkreten Abstimmung über eine nukleare Abschreckung der EU kommen würde, müssten diese Länder dagegen stimmen. Denn sie sind verpflichtet, keine unter dem Vertrag verbotenen Aktivitäten zu unterstützen. Damit ist ein Konsens in der EU über die Eurobombe wohl ausgeschlossen. xh

Quellen:
Sturm DF: Braucht die EU eigene Atomomben, Frau Barley? Tagesspiegel, 13.02.2024
Burrowski H, Wyssuwa M: „Ein EU-Nuklearschirm darf kein Tabu sein“, FAZ, 27.12.2023
Tagesschau: Braucht die EU eigene Atombomben?, 13.02.2024
Lübkemeier E: Voilà, ein Plan B für Deutschland, FAZ, 16.02.2024
Nassauer O: Der Atomwaffensperrvertrag – Oder: der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), BITS, 22.04.2004
Macron E: Speech of the President of the Republic on the Defense and Deterrence Strategy, 07.02.2020
Vogel D: Future Combat Air System: Too Big to Fail, SWP-Aktuell, Dezember 2020
Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste: “Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen. Deutsche und europäische Ko-Finanzierung ausländischer Nuklearwaffenpotentiale”, WD 2-3000-013/17, Sachstand, 23.05.2017
Deutsche Bundestag – Wissenschaftliche Dienste: Zu Fragen der Stationerung von taktischen Atomwaffen in Deutschland im Rahmen der nuklearen Teilhabe, WD 2 - 3000 - 035/20, Sachstand, 29.04.2020
Hahnfeld B: Nukleare Teilhabe, IALANA Deutschland, 23.11.2021

 

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