25.03.2022
Dmitrij Peskow, Sprecher des Kremls, sagte am 22. März 2022, es sei klar, wann Russland seine Atomwaffen einsetzen könnte. In einem Interview mit CNN International verwies er auf die geltende Doktrin Russlands, in der steht, dass Russland nur im Fall einer „existentiellen Bedrohung“ Atomwaffen einsetzen würde. Was genau für Russland „existentiell“ bedeuten würde, hat er jedoch nicht erklärt.
Auch der frühere Präsident Russlands Dimitrij Medwedew brachte den Atomwaffeneinsatz erneut in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Ria Novosti am 26. März ein. Er meinte, dass auch ohne mit Atomwaffen angegriffen zu werden, könne Russland Atomwaffen einsetzen, wenn das Land in seiner Existenz gefährdet sei.
Andere russische Beamte und Kommentatoren haben sich ebenso zu Wort gemeldet. Beispielsweise sagte Diplomat Dmitri Polyanskij, dass Russland das Recht habe, Atomwaffen einzusetzen, wenn die NATO Russland angreift oder [in der Ukraine] interveniert. Im russischen Staatsfernsehen sagte zudem Colonel Juri Knutow, dass eine NATO Entscheidung für eine Friedensmission in der Ukraine bedeuten würde, dass Russland taktische Atomwaffen einsetzen müsste. Diese würde dann zum Einsatz von strategischen Atomwaffen und einen „universellen Atomkrieg“ führen.
Am 2. Juni 2020 wurde die Politik der nuklearen Abschreckung Russlands bekannt gemacht. Im Prinzip ist die Politik auf der Grundlage eines Vergeltungsschlags ausgelegt, falls Russland mit Atomwaffen angegriffen wird. Es gibt vier Szenarien, in denen ein Einsatz von Atomwaffen in Frage kommen könnte:
- Wenn zuverlässige Daten zeigen, dass ballistische Raketen das Territorium der Russischen Föderation und/oder seine Verbündeten angreifen.
- Bei einem nuklearen Angriff gegen Russland oder seine Verbündeten.
- Bei einem Angriff gegen kritische Staats- oder Militärstandorte, deren Zerstörung eine Vergeltung durch die nuklearen Streitkräfte unterminieren würde.
- Ein konventioneller Angriff gegen Russland, der die „Existenz des Staates“ bedroht.
Peskows Äußerung bezieht sich auf das letztere, in der deutlich wird, dass der Staat an sich bedroht sei. Diese Bestimmung spiegelt die rechtliche „Lücke“ im Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes von 1996 wieder, in der das Gericht nicht entscheiden konnte, ob der Atomwaffeneinsatz im Falle einer extremen Situation, in der die Existenz des Staates auf dem Spiel stünde, rechtmäßig oder völkerrechtswidrig sei. Aber auch in einer solchen Situation müsste der Staat, der Atomwaffen einsetzt, sonstiges Völkerrecht beachten, was kaum möglich sei.
Nikolai Sokow hat im Juni 2020 diese Doktrin analysiert und meinte dazu, dass die Definition der Existenz des Staates wichtig wäre: Ist das Überleben des Regimes selber als existentiell eingestuft? Oder wird die territoriale oder souveräne Integrität hier maßgebend sein? Beispielsweise könnte ein Versuch, die Krim gewaltsam zurück zu erobern, als ein Angriff auf die territoriale Integrität des Landes verstanden werden. Könnte auch ein konventioneller Angriff einer „nuklearen Allianz“, wie die NATO sich selbst definiert, auch als existentielle Bedrohung gesehen werden?
Univ.-Prof. Dr. Michael Staack, Prof. Dr. Karl-Hans Bläsius und Brigadegeneral a. D. Reiner Schwalb schreiben am 21. März 2022 für die Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, dass es irrelevant sei, ob die Existenzgefährdung Russlands militärisch oder wirtschaftlich herbeigeführt wird. Eventuell könnten auch weitreichende Sanktionen oder schwerwiegende Cyberangriffe dazu zählen. Die rote Linie scheint immer noch uneindeutig zu sein. xh
Quellen:
Tagesspiegel: Russland will Atomwaffen nur bei einer „existenziellen Bedrohung“ einsetzen, 22.03.2022
Spiegel: Medwedew droht mit der Atombombe, 26.03.2022
RND: Russland droht mit Einsatz von Atomwaffen im Falle einer „Provokation durch die Nato“, 24.03.2022
Hall X: Neue russische Staatspolitik zur nuklearen Abschreckung, Atomwaffen A-Z, 02.07.2020
Staack M et al: Atomkriegsrisiko und Russland-Ukraine-Krieg, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, 21.03.2022
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