22.11.2024
Vermutlich als Reaktion auf die Entscheidung der USA, den Einsatz von weitreichenden Waffen durch die Ukraine zu erlauben, die Ziele tief in russischem Territorium erreichen können, unterschrieb Wladimir Putin am 19. November 2024 eine aktualisierte Version der Grundlagen für die russische nukleare Abschreckung. Bereits im September präsentierte Putin einen Entwurf des Papiers vor dem russischen Sicherheitsrat. Die Änderungen erweitern die Bedingungen für einen Einsatz von Atomwaffen sowie die Liste, nach welchen vermeintlichen Bedrohungen gegen Russland die Ausübung der nuklearen Abschreckung erforderlich wäre. Es wurde im Papier aber nicht konkretisiert in welcher Form dieser Abschreckung ausgeübt wird.
Laut dem Dokument würde ein Angriff gegen Russland und/oder Belarus durch einen Atomwaffenstaat oder einen Staat, der mit einem Atomwaffenstaat alliiert ist (und damit alle Staaten der NATO), bedeuten, dass Russland sich das Recht vorbehält, seine Atomwaffen einzusetzen. Dabei muss ein solcher Angriff nicht mit Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen geschehen: es reicht bereits ein konventioneller Angriff aus, der „eine kritische Bedrohung ihrer Souveränität und/oder territoriale Integrität“ Russlands und/oder Belarus darstellt, um eine atomare Antwort Russlands auszulösen.
Unter dem Punkt III. 19 (b) werden die potentiellen Ziele eines gegnerischen Angriffs so erweitert, dass nicht nur das Territorium der Union (Russland und Belarus), sondern auch Truppen und/oder Einrichtungen der Russischen Föderation, die sich außerhalb ihres nationalen Territoriums befinden, enthalten sind. Ein Angriff mit A, B oder C-Waffen gegen diese Ziele könnte ebenfalls einen atomaren Angriff als Reaktion auslösen.
In Punkt III. 19 (e) heißt es, dass alleine der Empfang zuverlässiger Informationen über einen „massiven Start von Luft- und Raumfahrtmitteln (strategische und taktische Flugzeuge, Marschflugkörper, Drohnen, Hyperschallwaffen und andere Flugkörper)“, die die Grenzen der Russischen Föderation überschreiten, die Gefahr einer atomaren Vergeltung birgt.
Zusätzlich wurde ein ganz neuer Absatz (20) eingefügt: „Die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen wird vom Präsidenten der Russischen Föderation getroffen“.
Rüstungskontrollexperte Jeffrey Lewis schreibt auf Bluesky, dass diese Doktrin nicht neu ist, sondern nur „neu verpackt“. Die Punkte (b) und (e) sind jedoch tatsächlich neu und senken die erklärte Schwelle des atomaren Einsatzes. Besonders gefährlich ist (e), weil die Geschichte voll mit Fehlalarmen und Fehlkalkulationen ist.
In der ersten Sektion der vorherigen Fassung der Doktrin hieß es, dass Russland Atomwaffen ausschließlich als Mittel der Abschreckung betrachtet. Das Wort "ausschließlich" wurde gestrichen. Zudem wurde die Erwähnung der Rüstungskontrolle gestrichen.
Sektion II (Wesen der nuklearen Abschreckung) wurde deutlich überarbeitet. Drei Absätze wurden neu hinzugefügt, die die Adressaten der nuklearen Abschreckung beschreiben:
Einzelstaaten und Bündnisse, die die Russische Föderation als potenziellen Gegner betrachten und die über Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen „oder ein erhebliches Kampfpotenzial von Mehrzweckstreitkräften“ sowie über das Territorium und die Ressourcen für die Vorbereitung und Durchführung eines Angriffs gegen Russland verfügen (Abs. 9).
Aggression von Staaten oder Bündnissen gegen die Russische Föderation wird als Aggression auch gegen Russlands Verbündete betrachtet (Abs. 10).
Ein Angriff eines Nichtatomwaffenstaates, der von einem Atomwaffenstaat unterstützt wird, „wird als gemeinsamer Angriff betrachtet“ (Abs. 10)
Die neu aufgelisteten Bedrohungen sind:
f) die Schaffung neuer Militärallianzen oder die Ausweitung bestehender Koalitionen, die ihre militärische Infrastruktur näher an die Grenzen der Russischen Föderation heranführen;
g) Aktionen eines potentiellen Gegners, die darauf abzielen, einen Teil des Territoriums der Russischen Föderation zu isolieren, einschließlich der Blockierung des Zugangs zu lebenswichtigen Verkehrsverbindungen;
h) Handlungen eines potentiellen Feindes, die darauf abzielen, umweltgefährdende Objekte der Russischen Föderation zu treffen (zu zerstören, zu vernichten), was zu technischen, ökologischen oder sozialen Katastrophen führen kann;
i) Die Planung und Durchführung groß angelegter militärischer Übungen in der Nähe der Grenzen der Russischen Föderation durch potenzielle Gegner.
Die Analyse dieser Aktualisierung läuft auf Hochtouren. Manche werten sie als Propaganda oder Stärkung der nuklearen Drohkulisse, weil Russland auf die Entscheidung des US-Präsidenten Biden reagieren will. Mit dieser Veröffentlichung will Putin aber nicht nur Signale an seinen Gegner schicken. Es soll auch eine sachliche und rechtliche Grundlage geschaffen werden, um einen potentiellen Einsatz innerstaatlich und gegenüber Verbündeten begründen zu können. Da Russland sich immer wieder als völkerrechtskonform präsentieren will – auch wenn der Angriff auf die Ukraine eindeutig gegen Völkerrecht verstößt – ist es Putin wichtig, jegliche Eskalation ganz genau rechtfertigen zu können, bis hin zu einem Atomwaffeneinsatz.
Es mag sein, dass Papier geduldig ist und eine Aktualisierung des russischen Grundlagenpapiers zur nuklearen Abschreckung noch nicht bedeutet, dass morgen der Atomkrieg beginnt. Aber jeder Schritt auf der Eskalationsleiter ist ein Schritt näher an dem Moment, wo zwangsläufig die entscheidende Aktion folgen muss, um die nukleare Abschreckung glaubwürdig zu demonstrieren. Es ist gefährlich, wie sich Putin Rahmenbedingungen schafft für den Fall, dass die NATO – allen voran die USA – die Lieferung immer weitreichenderer und präziserer Waffen fortführt und erlaubt, dass die Ukraine diese gegen Ziele in Russland einsetzt. xh
► Im Wortlaut (russisch): Decree 991, On the Fundamentals of the State Policy of the Russian Federation in the Field of Nuclear Deterrence
Quellen:
Saradzhyan S: New Principles of Russia’s Nuclear Deterrence Liberalize Conditions for Use, Unsurprisingly, Russia Matters Blog, 19.11.2024
President of Russia: Meeting of the Security Council standing conference on nuclear deterrence, kremlin.ru, 25.09.2024
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