Atomwaffen A-Z

Nuklearer Neokolonialismus

Indigene Völker sind Ureinwohner*innen wie zum Beispiel die Aborigines, die Native Americans, die Uigur*innen, die Polynesier*innen oder die Marshall Inselbewohner*innen. Diese Minderheiten sind der kriminellen Rücksichtslosigkeit der Atomindustrie vollkommen ausgeliefert. Der Uranabbau, die Atomwaffentests und die Endlagerung radioaktiven Mülls rauben den Ureinwohner*innen ihre Lebensgrundlage.
 
Über 70% der Uranvorkommen der Welt, sowie sämtliche Atomtestgelände für Atomwaffen finden sich unter bzw. auf den Territorien indigener Völker. Die Fortsetzung der nuklearen Kultur bedeutet die systematische Zerstörung der nicht-industriellen Gesellschaften.

Sofern man die Betroffenen nicht umsiedelt, werden ihnen zwar Arbeitsplätze und Wohlstand in Aussicht gestellt, aber die Verstrahlung des Lebensraumes verschwiegen.

US-Atomtests

Die USA begannen 1948 mit ihren Atombombentests auf dem Bikini-Atoll in den Marshall-Inseln. Die Bikini-Bewohner*innen wurden überzeugt, das Atoll (die Insel) zu verlassen. Sie verließen die Insel im guten Glauben, dass sie nach Beendigung der Testreihe ohne Gefahr auf ihr Atoll zurückkehren könnten und entschlossen sich, auf das Rongerik-Atoll, 200 km weiter östlich zu ziehen. Dieses Atoll war zuvor unbewohnt und seine Landfläche betrug nur ein Viertel der Größe von Bikini. Die Menschen hatten dort keine ausreichende Ernährungsgrundlage, so dass die Bikini-Bewohner nach vermehrten Anzeichen von Unterernährung auf die Kili-Insel gebracht wurden. Diese verfügt über keine schützende Lagune und ist bei einer häufig stürmischen See nicht mit dem Schiff erreichbar.

Nach zwei Tests auf Bikini führten die USA ihre Tests auch auf Eniwetok und Johnston Atoll fort. Die am schwersten betroffenen Atolle wurden zunächst evakuiert und dann später einige Male erneut besiedelt. Es gibt bis heute Befürchtungen über fortgesetzte Strahlung und Verschmutzung von Wasser und Fischen. Sie haben sich im Laufe der Jahre sogar verstärkt. Infolge der Tests erlitten die Marshallinseln schwere physikalische Schäden, die Menschen auf Bikini und Eniwetok wurden von der US-Regierung vertrieben. Einige Marshall-Inselbewohner*innen wurden vorübergehend evakuiert, aber der überwiegende Teil der dort lebenden Menschen blieb auf den Atollen. Der "Castle-Bravo"-Test von einer 15-MT-Thermonuklearbombe 1954 ließ eine 40 km hohe Wolke aufsteigen, die die Atolle von Rongelap, Ailinginae, Rongerik und Utirik mit Fallout, das heißt radioaktivem Niederschlag, verschmutzte. Die Rongelap-Bewohner*innen glaubten, es würde schneien und die Kinder spielten im radioaktiven Pulver. Niemand wurde durch das Militär vor der Gefahr gewarnt. Erst drei Tage später wurde die Bevölkerung Rongelaps evakuiert.

Drei Jahre nach der Evakuierung der Rongelap-Bewohner*innen beschloss die US-Regierung, sie doch wieder in ihre Heimat zurückzubringen, allerdings ohne die Insel zuvor „gesäubert" zu haben. Offensichtlich war es von großem Interesse erforschen zu können, wie die Menschen Radioaktivität in einer kontaminierten (verschmutzen) Umwelt einatmen.

Neben den akuten Auswirkungen und Spätfolgen der Strahlenbelastung für die Gesundheit und das Leben der Inselbewohner*innen wurde zusätzlich gegen ein anderes Menschenrecht verstoßen: Das Recht auf eigene Identität. Die ethnische Identität wurde durch die Vertreibung und die Zerstörung der Heimat verletzt.

Chinesische Atomtests
 
Ein weiteres Beispiel, das die Zerstörung indigener Kulturen verdeutlicht, sind die Atomwaffentests, welche China in Lop Nor, der Provinz Xinjiang, durchführt. Dies ist die Heimat der Uigur*innen. Diese Provinz ist ein Teil von Turkestan und seit 1911 unter chinesischer Kolonialverwaltung. Insgesamt wurden bis 1996 45 Atomtests unternommen. Die Hälfte davon oberirdisch. Noch 1976, zwölf Jahre nach der Ächtung atmosphärischer Explosionen wurde in Lop Nor eine 4-MT-Bombe oberirdisch gezündet. Anfangs wurde die Bevölkerung in den unmittelbar betroffenen Gebieten nicht einmal evakuiert, später dann schon nach zwei Wochen zurückgesiedelt. Die Menschen tranken verseuchtes Wasser und aßen vergiftete Nahrung. Offizielle Statistiken über Opfer existieren nicht, während der ganzen 30 Jahre gab es keine einzige medizinische Untersuchung. Aus dem Gebiet kommen jedoch unbestätigte Meldungen über eine erschreckend hohe Zunahme von Krebsfällen, Fehlgeburten und Missbildungen. Sich wegen der gesundheitlichen Schäden, welche durch die permanente Strahlung verursacht wurden, in ärztliche Behandlung zu begeben, ist für die meisten Menschen dort einfach zu teuer. Lautwerdende Proteste der Uigur*innen werden durch die chinesische Regierung rigide unterdrückt.

Uranabbau

Zu jeder Exploration gehören durchschnittliche 500 Testbohrungen, die die Wasseradern verletzen und das Trinkwasser verseuchen. Beim Uranabbau und der anschließenden Verarbeitung werden Schwefelsäure und Laugen verwendet, wodurch spaltbare radioaktive Isotope freigesetzt werden: Radongas 222 und Radium 226, Thorium 230. Pro Tonne Uranoxid (Yellowcake) fallen, je nach Anteil im Muttergestein, zwischen 1 000 und 40 000 Tonnen Abraum an. Diese Halden enthalten bis zu 85% der ursprünglichen Radioaktivität. Der Regen wäscht die Spaltprodukte aus, der Wind trägt den pulverisierten Abraumsand weit ins Land hinein. Die Gewinnung von Uran verseucht nicht nur die Nahrung und das Grundwasser jener Völker, sondern entwurzelt sie aus ihrer jahrhundertealten Kultur. Uranlagerstätten waren vormals häufig heilige Orte oder Tabuzonen der Ureinwohner*innen.

Die Mirrar-Ureinwohner*innen, im Norden Australiens im Kakadu National Park (KNP) lebend, haben seit 20 Jahren Erfahrung mit Uranabbau. Die Mirrar sind die ursprünglichen Besitzer des Gebiets, auf dem sich auch die Uranminen Ranger, Jabiluka sowie die Minenarbeiterstadt Jabiru befinden. Die 27 Erwachsenen und zahlreichen Kinder dieser Gruppe sind am stärksten betroffen, während in der unmittelbaren Umgebung noch ca. 500 weitere Menschen in 16 anderen indigenen Gruppen leben. Dass die Umweltverschmutzung durch die Uranmine Ranger wachse, veröffentlichte 1991 das "Office of the Supervising Scientist" (OSS), eine von der Regierung geschaffene Institution. 1981 liefen wegen eines Lochs in der Uranmine Ranger knapp 2 Mio. Liter kontaminiertes Wasser in den Kakadu National park. Die Muscheln in den umliegenden Bachläufen waren verseucht und die indigenen Völkergruppen ernähren sich u.a. von "Bushfood" aus dem Park, d.h. sie sammeln Früchte, fischen und jagen.

Weder die Bewohner*innen der Marshall-Inseln, die Mirrar noch die Uigur*innen -nur drei Beispiele, welche den nuklearen Neokolonialismus anschaulich machen - haben bei der UNO eine Stimme und konnten erst durch Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) ihre Interessen vertreten. Menschenrechtler*innen und Umweltaktivist*innen haben 1987 zusammen mit Ureinwohner*innen aus Nordamerika und Australien das World Uranium Hearing ins Leben gerufen. Das WUH war eine Anhörung, bei der die betroffenen Ureinwohner*innen vor einem internationalem Gremium, welches aus Wissenschaftler*innen und Schriftsteller*innen besteht, über die Bedrohung durch eine Zivilisation sprechen, deren Verteidigungs- und Energiekonzept im Wesentlichen auf Atomkraft beruht.

Links

Hamm H et al: Uranatlas. Daten und Fakten über den Rohstoff des Atomzeitalters, Kapitel zu "Koloniales Erbe", Nuclear Free Foundation, 2019

LZ online: Uran - das koloniale Erbe. Interview mit Patrick Schukalla, 20.10.2019

Zeit online: Klage gegen Frankreich vor dem Strafgerichtshof in den Haag, 10.10.2018

Gerold B: USA wollen indigene Bevölkerung ein halbes Jahrhundert nach Atomtests zur Rückkehr bewegen, Gesellschaft für bedrohte Völker, 31.05.2010

Bryant E: Strahlendes Erbe, Quantara,20.02.2020

IPPNW: Ranger, Australien, Hibakusha weltweit

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