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Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung

Die Sitzblockade wurde das zentrale Aktionselement nach der Stationierung der Pershing II. Kernpunkt war die Kampagne „Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung“, die von Volker Nick und Christof Then initiiert wurde. Nur rund 500 Personen unterzeichneten die Selbstverpflichtung zur jährlichen  Blockadeteilnahme. 2.999 Menschen wurden jedoch aufgrund von Blockaden in Mutlangen wegen Nötigung angeklagt. Zwischen 1983 und 1987 beteiligten sich viele Tausende an Aktionen vor den Toren des Pershing-Depots. Die Festnahmen lösten eine unübersehbare Prozesslawine aus, die mehrfach bis zum Bundesverfassungsgericht führte. Dort konnte 1995 im zweiten Anlauf ein Erfolg verbucht werden. Die Verurteilungen wegen Nötigung wurden aufgehoben, allerdings waren da bereits der INF-Vertrag unterzeichnet und die Atomraketen abgezogen.

Neben der politischen Wirkung der Blockaden ergab sich noch ein weiterer wichtiger Effekt: Durch die Vielzahl der Aktionen und durch einen sehr offenen Diskussionsprozess in der Kampagne konnte der massenhafte Zivile Ungehorsam theoretisch und praktisch weiterentwickelt werden. Bezugsgruppensystem, Prozessstrategien, Umgang mit Knast, Umgang mit Gesprächsangeboten, Mobilisierungstechniken, Rechtfertigung von Ungehorsam, in all diesen Bereichen entstanden schlicht durch die große Anzahl an Erfahrungen große Lernprozesse. So konnten einerseits viele der Aktiven persönlich zu "Ungehorsams-Profis" werden. Andererseits bilden die Ereignisse von Mutlangen für die gewaltfreie Bewegung in der Bundesrepublik (und darüber hinaus) einen so reichhaltigen Erfahrungsschatz, dass noch bis heute davon gezehrt werden kann.

In der Kernfrage der Atomwaffen blieb der Erfolg jedoch vor dem höchsten Gericht versagt. Das Verfassungsgericht hatte in den 80er Jahren keine Bedenken, Atomwaffen und die Politik der nuklearen Abschreckung für verfassungskonform zu erklären. In den Entscheidungen zu den Blockaden wurde auf die Rechtfertigungsgründe mit keinem Wort eingegangen.

Die InitiatorInnen beschrieben die Funktionsweise der Kampagne im Buch „Mutlangen 1983-1987 Die Stationierung der Pershing II und die Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung: „Wir verstanden unsere Kampagne als Graswurzelbewegung, im Idealbild also als einen Organismus, der Schritt für Schritt wächst, der immer vielfältiger und differenzierter und dabei kräftiger, stabiler, widerstandsfähiger wird. (…) Wir praktizierten Sicherheitspolitik von unten, wir nahmen unser Überleben in die eigenen Hände, indem wir unser Leben dem Pershing-Betrieb aussetzten. Es ging nicht nur um Protest, sondern ums Eingreifen in unerträgliches staatliches Unrecht. Wir wollten nicht nur mahnen und warnen und demonstrieren, sondern konkret und gewaltfrei in die Speichen der Räder der Vernichtung greifen. Die USA beschwerten sich bei der Bundesregierung, dass ihr militärisches Handeln in Mutlangen häufig davon abhing, ob der Polizeieinsatz gegen uns BlockiererInnen endlich abgeschlossen war. (…)Uns war klar, dass wir die Rüstungspolitik nicht verändern konnten, ohne uns selber genauso stark zu verändern. Und wir erlebten, wie die Konfrontation mit Militär, Polizei, Justiz und immer wieder auch mit dem Gefängnis uns tatsächlich veränderte, uns freier machte, vor allem angstfreier, selbständiger und auch reifer. Wir lernten, uns in unseren Aktionen auszudrücken, unsere Identität zu finden angesichts des alles nivellierenden Machtanspruchs der Massenvernichtungsmittel.“(Quellen: Wolfgang Schlupp-Hauck; Jochen Stay; Volker Nick et al)

Bearbeitungsstand: November 2012

siehe auch: Kalter Krieg
siehe auch: Mutlangen
siehe auch: NATO-Doppelbeschluss
siehe auch: Pershing-II-Rakete

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