Ukraine
ehem. Atomwaffenstaat
Die Verteidigungsminister Russlands, der USA und der Ukraine pflanzen Sonnenblumen am Ort, wo vorher ein nuklearer Raketensilo stand, 4. Juni 1996.
Die Ukraine war neben Russland, Belarus und Kasachstan eine der vier ehemaligen Sowjetrepubliken, auf deren Territorium nach Auflösung der Sowjetunion Atomwaffen stationiert waren. Nach Erlangung der Unabhängigkeit befanden sich im Herbst 1991 auf dem Territorium der Ukraine insgesamt 176 strategische Interkontinentalraketen mit zusammen 1.240 Atomsprengköpfen:
Die Luftwaffe verfügte auf den Basen Chmelnizki und Perwomajsk über insgesamt 42 schwere atomwaffenfähige Tupolev-Bomber, die mit insgesamt 592 luftgestützten Cruise Missiles (ALCMs) vom Typ AS-15 ausgestattet waren. Diese Bomberflotte setzte sich zusammen aus:
- 22 Tupolev-95 („Bear“) mit jeweils 16 AS-15 ALCMs (luftgestützte Marschflugkörper);
- 20 Tupolev-160 („Blackjack“) mit jeweils 12 AS-14 ALCMs.
In der Ukraine waren im Jahr 1991 insgesamt 1.832 strategische Nuklearsprengköpfe stationiert. Darüber hinaus befanden sich ca. 3.000 taktische Atomwaffen auf ukrainischem Territorium. So waren in der Ukraine zu jener Zeit fast 5.000 Atomwaffen vorhanden. Sie hatte damit das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt. Alle Kontrollsysteme waren jedoch in Russland und die ukrainischen Militärs hatten keine Startcodes für die Atomwaffen, die mit PAL-Sperren ausgestattet waren. Somit hatte Kiew keine direkte Verfügungsgewalt über diese Atomwaffen.
Bereits im Dezember 1991 hatte der damalige ukrainische Präsident Krawtschuk Vereinbarungen in Minsk und Almaty unterzeichnet, in denen er auf die operationelle Verfügungsgewalt über alle nuklearen Streitkräfte verzichtete und auf das Hauptquartier der GUS-Staaten in Moskau übertrug. Alle konventionellen Streitkräfte der Ukraine wurden nationalisiert und das Militärpersonal im Land verpflichtet, ein neues Gelöbnis abzugeben.
Es folgte eine lange Diskussion über die Legitimität der GUS-Kontrolle über die strategischen Atomwaffen auf dem ukrainischen Territorium. Die ukrainische Führung war hier heterogen in ihrer Meinung. Die USA forderte die Ukraine auf, den START-1-Vertrag und die Lissaboner Protokolle im Mai 1992 zu unterzeichnen und die Atomwaffen abzugeben. Aber das ukrainische Parlament verzögerte die Ratifizierung des Vertrages über Monate und fügte eine lange Liste von Bedingungen hinzu, die Russland und die USA nicht akzeptierten. Krawtschuk erklärte, dass die Ukraine doch die „Verwaltungskontrolle“ der Waffen wieder an sich genommen hätte. Es wurde sogar behauptet, dass die Atomwaffen und alle nukleare Materialien Ukraine gehören würden. Am 4. April 1992 forderte Krawtschuk, dass das Militärpersonal der nuklearen Streitkräfte ebenfalls das Gelöbnis für die Ukraine abgeben oder zurücktreten müssten. Allerdings folgte fast niemand dieser Aufforderung.
Russland lehnte alle ukrainischen Behauptungen über die Kontrolle und den Besitz der Atomwaffen ab. Der Kreml forderte, dass die Ukraine die strategischen Atomstreitkräfte von der Alarmbereitschaft herunterstufen, außer Betrieb nehmen und an die Russische Föderation übergeben müssten. Fast zwei Jahre lang gab es einen bitteren und komplexen Streit zwischen den beiden Staaten über den Status und die Zukunft der Atomwaffen auf dem ukrainischen Territorium.
Bis 1993 wurde deutlich, dass die Ukraine die nuklearen Streitkräfte nicht halten konnte. Belarus und Kasachstan waren schon dabei, ihre Atomwaffen zurück zu geben; damit blieben die GUS-Streitkräfte lediglich nur noch in Russland und die Ukraine. Am 15. Juni 1993 wurde bei einem Treffen der GUS-Verteidigungsminister versucht, durch den Rücktritt von Oberbefehlshaber Schaposchnikow die GUS-Streitkräfte aufzulösen und sie praktisch unter russisches Kommando zu stellen. Die Ukraine wollte zunächst erneut versuchen, die Kontrolle über die Atomwaffen zu erlangen. Doch bei einer Inspektion des Atomwaffendepots tauchte ein neues Problem auf: Die Lagerung einer sehr hohen Zahl von Sprengköpfen – fünf Mal der vorgesehenen Kapazität – stellte eine gravierende Sicherheitsgefahr dar. Nur die russische Armee wäre technisch in der Lage gewesen, diese Frage zu lösen, sagte General Sergejew, Befehlshaber der russischen Raketenstreitkräfte. Diese nukleare Gefahr stellte er vor den internationalen Medien auch dar und behauptete, die Ukraine wäre mit dem Problem überfordert. Danach ließ er eine russische Delegation von Ingenieuren durch ein technisches Gutachten über die Situation im Atomwaffendepot seine Aussagen bestätigen. Anscheinend hatten auch Komponenten innerhalb der Sprengköpfe ihre Betriebsdauer überschritten und sollten deaktiviert werden. Der ukrainische Verteidigungsminister Morozow erklärte daraufhin, dass die Atomwaffensysteme außer Betrieb genommen werden, die Sprengköpfe von den Raketen abmontiert und – gemeinsam mit den Russen – zunächst in der Ukraine sicher gelagert werden, bis die Ratifizierung des START-I-Vertrages im Parlament abgestimmt wird.
Im Sommer 1993 begann der ukrainische Präsident Krawtschuk, einen Verhandlungsplan zu erarbeiten, um die Rückgabe der Atomwaffen umzusetzen. Wichtig waren drei Bedingungen: Sicherheitsgarantien der Atommächte über die Souveränität der Ukraine, Entschädigung für das in den Waffen enthaltene Nuklearmaterial und technische Unterstützung für die Demontage inklusiv Umweltsanierung. Diese Verhandlungsposition war fruchtbar: Am 27. Juli 1993 unterschrieb die USA und die Ukraine das Nunn-Lugar Memorandum in Kiew und die USA versprachen 175 Millionen US-Dollar für die Demontage der SS-19-Raketen.
Im September 1993 trafen sich russischer Präsident Jelzin und ukrainischer Präsident Krawtschuk in Stalins ehemaligen Jagdhaus in Jalta. Dort sollten die offenen Fragen auf den Tisch gelegt werden. Gazprom stellte 25% der Gaslieferungen an die Ukraine ein und drohte, falls sie keine Vereinbarungen in Jalta erzielen, das Gas vollständig abzudrehen. Jelzin bot beim „Massandra Gipfel“ jedoch an, wenn die Ukraine alle Atomwaffen abgebe, würde Russland einen Schuldenerlass in Höhe von 2,5 Milliarden US-Dollar für Gas und Öl erteilen und Entschädigungen zahlen. Geschwächt durch die wirtschaftliche Rezession, angesichts einer düsteren Zukunft ohne Öl und Gas stimmten Präsident Krawtschuk, Premier Kutschma und die ukrainische Regierung den russischen Bedingungen zu. Dieses Ergebnis wurde scharf in der Ukraine kritisiert und Verteidigungsminister Morozow trat zurück.
Die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine erreichten in dieser Zeit einen historischen Tiefpunkt. Deswegen ergriffen die Vereinigten Staaten die Gelegenheit und setzten sowohl die ukrainische als auch die russische Regierung so unter Druck, dass innerhalb weniger Monate ein neues internationales Abkommen ausgehandelt, unterzeichnet und in die ersten Phasen der Umsetzung überführt wurde.
Die trilaterale Erklärung wurde am 14. Januar 1994 in Moskau von den Präsidenten der drei Staaten Ukraine, Russland und die USA von Clinton, Jelzin und Krawtschuk unterzeichnet. Diese beinhaltete ein Statement, eine Anlage und sechs geheime Briefe. Diese Dokumente sahen vor, dass die Ukraine alle strategischen Sprengköpfe auf ihrem Territorium an Russland zur Beseitigung übergibt und im Gegenzug Sicherheitsgarantien, eine Entschädigung für den Handelswert des hochangereichten Urans und Unterstützung unter dem Nunn-Lugar-Programm für die Beseitigung von Interkontinentalraketen (ICBM), ICBM-Silos, Bombern und anderer Infrastruktur auf ukrainischem Territorium erhält.
Am 5. Dezember 1994 wurde Ukraine offiziell Mitglied des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages (NVV), der START-I-Vertrag tritt in Kraft und das Budapester Memorandum wurde mit den ehemaligen sowjetischen Republiken unterzeichnet.
Mit dem Budapester Memorandum verpflichteten sich die USA, Russland und Großbritannien die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit von Belarus, der Ukraine und Kasachstan zu garantieren, wenn diese im Gegenzug auf den Besitz von Nuklearwaffen verzichten würden. Auch die Volksrepublik China und Frankreich haben nachträglich ergänzende Erklärungen mit ähnlichen Inhalten abgegeben. Im Gegenzug sollten diese Länder auf den Besitz von Nuklearwaffen verzichten.
Am 2. Juni 1996 erklärte der damalige Premierminister der Ukraine, Leonid D. Kutschma, Ukraine sei jetzt atomwaffenfrei. Der letzte Atomsprengkopf wurde am 1. Juni an Russland zurückgegeben. Damit hatte Ukraine ihren Teil der trilateralen Vereinbarung zwischen den USA, Russland und die Ukraine vollzogen.
Am 4. Juni 1996 pflanzten die Verteidigungsminister aus den USA, Russland und der Ukraine – William Perry, Gen. Pavel Gratschew und Valery Schmarow – Sonnenblumen in einem Feld in Perwomajsk, wo früher Atomraketensilos waren. Das war als ein Symbol der Hoffnung gedacht. Perry sagte: „Sonnenblumen statt Raketen in der Erde werden Frieden für künftige Generationen sichern.” Seitdem pflanzen Friedensaktivisten Sonnenblumen für die nukleare Abrüstung.
In einer gemeinsamen Erklärung am 9. Dezember 2009 bestätigten die Präsidenten der USA und Russlands Obama und Medvedev erneut die im Budapester Memorandum erklärten Sicherheitsgarantien.
Nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 sowie nach der russischen Invasion 2022 wurde oft die Frage gestellt, ob die Ukraine die Atomwaffen hätte behalten sollen. Der ehem. Präsident Krawtschuk sagte dazu in einem Interview mit der Deutschen Welle, dass sich diese Frage nicht wirklich gestellt hätte, weil der Preis zu hoch gewesen wäre. Eine Eigenproduktion von nuklearen Sprengköpfen für die in der Ukraine produzierten Trägersysteme wäre zu teuer gewesen und „die Staatskasse war leer“, so Krawtschuk. Allerdings erklärte die Ukraine damals ihre Absicht, operationelle Kontrolle über die strategischen Atomwaffen zu erzielen, die auf ihrem Territorium geblieben waren. Russland machte daraufhin deutlich, dass dies als Kriegshandlung interpretiert werden könnte.
Am 15.4.2021 drohte der ukrainische Botschafter in Deutschland öffentlich, sein Land müsse aufrüsten - eventuell auch mit Atomwaffen -, um sich gegen Russland zu verteidigen, wenn die Ukraine nicht bald Mitglied in der NATO werde.
Im Oktober 2024 entflammte wieder eine Diskussion über die Ukraine und Atomwaffen, nach dem Präsident Selenskij beim EU-Gipfel erklärte, dass die Ukraine entweder über Nuklearwaffen verfügen könne oder Mitglied in der NATO werden. Dieses wurde von vielen als Erpressungsversuch interpretiert. Der russische Präsident Putin bezeichnete diese Andeutung als „gefährliche Provokation“. Kurz darauf versuchte Selenskij die Sache richtig zu stellen: die Ukraine hätte gar nicht vor Atomwaffen zu besitzen, sondern sie wolle NATO-Mitglied werden. xh
Bearbeitungsstand: Dezember 2024
► Weitere Informationen zu den ehem. sowjetischen Republiken
Quellen:
Colschen LC: Die Kernwaffen in der Ukraine, Wissenschaft und Frieden, 2/1994
Deutschlandfunk: Selenskyj stellt klar: „Streben keine nukleare Bewaffnung an“, 19.10.2024
Harahan JP: With courage and persistence. Eliminating and securing weapons of mass destruction with the Nunn-Lugar Cooperative Threat Reduction Programs, Defense Threat Reduction Agency, 2014
Kyiv Post: Western Information Agency: USA, Russia confirm guarantees of security to Ukraine, 04.12.2009
Pifer S: The Trilateral Process: The United States, Ukrain, Russia and Nuclear Weapons, Brookings Institute, 09.05.2011
Spiegel Ausland: Ukrainischer Botschafter droht mit atomarer Aufrüstung, 15.04.2021
Spiegel Ausland: Selenskyj spricht über Atomwaffen, Putin wirft ihm Provokation vor, 18.10.2024