Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs
engl.: Advisory Opinion of the International Court of Justice
Am 8. Juli 1996 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag – der "World Court", wie der IGH im angelsächsischen Sprachraum genannt wird, ein sehr gewichtiges völkerrechtliches Gutachten ("advisory opinion") zur Atomwaffenfrage erstattet. Die ihm vorgelegte Rechtsfrage nach der Völkerrechtsmäßigkeit der Androhung und des Einsatzes von Atomwaffen hat er dabei recht eindeutig beantwortet.
Der IGH wurde von der UN-Generalversammlung gemäß Art. 96 UN-Charta die Frage gestellt: „Kann die Androhung des Einsatzes oder der Einsatz von Atomwaffen unter bestimmten Umständen völkerrechtlich legal sein?“ Die Frage kam durch eine zivilgesellschaftliche Initiative mit dem Titel "World Court Project" zustande, die 1994 eine UN-Resolution in der UN-Vollversammlung herbeiführte. Im Laufe des Jahres 1995 wurden schriftliche und mündliche Stellungnahmen gelesen und gehört. Es dauerte acht Monate, bevor der IGH sein Rechtsgutachten fertigstellte, das auch viele abweichende Meinungen enthielt.
Der IGH hat in seiner Entscheidung – einstimmig – ausdrücklich klargestellt, dass die folgenden Regeln des sog. humanitären (Kriegs)-Völkerrechts in jedem Falle als geltendes Völkergewohnheitsrecht anzusehen und zu beachten sind, die aber bei einem Atomwaffeneinsatz aufgrund der spezifischene Eigenschaften von Nuklearwaffen typischerweise gerade nicht eingehalten werden könnten:
- Jeder Einsatz von Waffen muss zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung unterscheiden.
- Bei jedem Waffeneinsatz müssen unnötige Grausamkeiten und Leiden vermieden werden.
- Unbeteiligte und neutrale Staaten dürfen bei einem Waffeneinsatz nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.
Der IGH hat daraus einen weiteren Schluss gezogen: „Aus den oben ... erwähnten Anforderungen ergibt sich, dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich/generell („generally“) gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.“ (Nummer 105 (2) E Absatz 1).
Diese Teil-Entscheidung des IGH erging zwar nur auf der Grundlage einer sehr knappen Abstimmungsmehrheit, bei der die Stimme des Gerichtspräsidenten den Ausschlag gab. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass drei weitere Richter nur deshalb insoweit nicht mit der Präsidenten-Mehrheit stimmten, weil sie die Androhung und den Einsatz von Atomwaffen nicht nur „grundsätzlich/generell“ ("generally"), sondern ausnahmslos als verboten ansahen. Insofern ist die Sachentscheidung, soweit sie die Legalität eines Einsatzes von Atomwaffen und dessen Androhung verneint, letztlich mit einer Mehrheit von 10 zu 4 Stimmen ergangen.
Die Mehrheit des Gerichtshofes sah sich darüber hinaus aber nicht abschließend in der Lage, positiv oder negativ definitiv festzustellen, ob es unter bestimmten Voraussetzungen einen Ausnahmefall von dieser grundsätzlichen Völkerrechtswidrigkeit jeder Androhung und jedes Einsatzes von Atomwaffen geben kann. In der maßgeblichen Mehrheitsentscheidung heißt es dazu:
„Der Gerichtshof kann jedoch in Anbetracht des gegenwärtigen Völkerrechts und der ihm zur Verfügung stehenden grundlegenden Fakten nicht definitiv entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiele stehen würde, rechtmäßig oder unrechtmäßig sein würde.“ (Nummer 105 (2) E Absatz 2)
Mit anderen Worten: Völkerrechtlich „sicher“ und „geklärt“ ist die grundsätzliche/generelle Völkerrechtswidrigkeit eines Einsatzes und der Androhung eines Einsatzes von Atomwaffen. „Unsicher“ und „ungeklärt“ ist dagegen, ob Atomwaffenstaaten in einer „extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz des/eines Staates auf dem Spiele stünde“, ausnahmsweise doch den Einsatz von Atomwaffen androhen und vornehmen dürfen. Nur in dieser „Nische“ können seit dem Vorliegen dieses höchstrichterlichen Rechtsgutachtens Nuklearstrategien und -planungen von Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten künftig allenfalls noch zulässig sein - wenn überhaupt. Dies ist für Atomwaffenstaaten - völkerrechtlich betrachtet - keine „angenehme Nische“. Denn es ist alles andere als sicher, ob das Völkerrecht einen solchen Ausnahmefall überhaupt zulässt und ob in einem konkreten Konfliktfall ein solcher eintreten würde.
Der IGH hat in seinem Richterspruch vom 8.7.1996 darüber hinaus – einstimmig – die völkerrechtlich verbindliche Verhandlungs-Pflicht zur Realisierung vollständiger nuklearer Abrüstung festgestellt. Er hat in seiner Entscheidung mit den Stimmen aller seiner Richter entschieden: „Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“ (Quelle: Dieter Deiseroth, Friedensforum 1/05)
»Das IGH-Rechtsgutachten im Wortlaut (PDF)
Bearbeitungsstand: Juli 2021