Gegenseitige Verwundbarkeit
engl.: mutual vulnerability
Gegenseitige Verwundbarkeit (auch als "mutual vulnerability" bezeichnet) ist ein Konzept in der Sicherheitspolitik, das sich auf die wechselseitige Anfälligkeit von Nationen oder Akteuren bezieht, insbesondere im Zusammenhang mit Atomwaffen. Im Kontext von nuklearer Abschreckung bedeutet gegenseitige Verwundbarkeit, dass sowohl die eigenen Streitkräfte als auch die Zivilbevölkerung einem potenziellen nuklearen Angriff ausgesetzt sind und schwerwiegende Schäden erleiden könnten.
In der Geschichte hat es immer wieder Versuche gegeben, mit technischen Mitteln die eigene Verwundbarkeit zu reduzieren. Seit der Existenz von Atomwaffen ist dieses Problem unlösbar geworden, weil selbst Staaten, die über Nuklearwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen verfügen, verwundbar bleiben. Bestenfalls kann ein Zustand gegenseitiger Verwundbarkeit erreicht werden. In der Ära des Kalten Krieges berühte die Sicherheit der USA und der Sowjetunion sowie der jeweiligen Verbündeten auf dem Prinzip der gegenseitigen Verwundbarkeit als Grundlage für die Strategie der gegenseitige zugesicherten Zerstörung oder MAD. Dieser Zustand gegenseitiger Verwundbarkeit wurde als "stabil" angesehen, weil die Befürworter davon ausgingen, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion angesichts der Verwundbarkeit der Städte beider Seiten vergleichbare, überwältigende Abschreckungsmaßnahmen gegen einen Atomkrieg hätten - unabhängig davon, welche Seite einen Angriff initiieren würde. Dieser Zustand gegenseitiger gesellschaftlicher Verwundbarkeit wurde bekanntlich mit "zwei Skorpionen in einer Flasche" verglichen.
An Versuchen, die eigene Verwundbarkeit durch eine wirkungsvolle Raketenabwehr zu reduzieren, hat es nicht gefehlt. Bekanntestes Beispiel sind die von den USA 1983 ins Leben gerufenen „Strategic Defence Initiative (SDI)“ und die 1999 begonnene „National Missile Defence (NMD)“. Bis heute gibt es keinen wirksamen Schutzschirm gegen Interkontinentalraketen, so dass das Prinzip der gegenseitigen Verwundbarkeit unter veränderten Bedingungen weiterhin Gültigkeit hat. (red./ai)
Bearbeitungsstand: Juni 2023
Quellen:
Dettke D: Zur Problematik der äußeren Sicherheit, in Frieden und Sicherheit im 21. Jahrhundert
Payne KB: Deterrence via mutual vulnerability? Why not now, Real Clear Defense, 19.10.2022