Abschreckung
engl.: deterrence
Das Konzept der Abschreckung ist kennzeichnend für das Atomwaffenzeitalter. Abschreckung zielt darauf, unerwünschtes Verhalten oder gar einen Angriff des Gegners dadurch zu verhindern, dass dieser mit dem Einsatz von Atomwaffen bedroht wird. Die atomare Abschreckung soll eine Art "Versicherungspolice" darstellen, falls Diplomatie oder andere Formen der Kriegsprävention versagen. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Gegner vernünftig handelt, die Zerstörung seines Landes durch Atomwaffen um jeden Preis verhindern will und sich demgemäß abschrecken lässt.
Ausgangspunkt der Abschreckung ist die gegenseitige Verwundbarkeit. Beide Seiten streben danach, sich im Rüstungswettlauf Vorteile zu sichern, um notfalls stärker zu sein, auf jeden Fall aber eine gesicherte Zweitschlagskapazität zu behalten. Diese Bestrebungen führen zwangsläufig zu Hochrüstung und immer leistungsfähigeren Waffensystemen. Die verhängnisvolle Rüstungsspirale wird immer höher geschraubt. Unter den Bedingungen des atomaren Patts gibt es jedoch keinen entwaffnenden Erstschlag, weil selbst bei Einsatz aller verfügbaren Mittel nicht alle Atomwaffen des Gegners ausgeschaltet werden könnten. Das Dilemma dieses Konzepts ist, dass es auf Dauer funktionieren muss ‑ es kann aber nicht ausprobiert werden, ob es tatsächlich funktioniert.
Die atomare Abschreckung gilt den Atomwaffenstaaten und ihren Verbündeten seit Beginn des Atomwaffenzeitalters als Eckpfeiler ihrer Sicherheitsdoktrin. Viele glauben, die Abschreckung hätte einen Angriff auf den eigenen Staat oder sogar einen Dritten Weltkrieg verhindert. Das ist aber fraglich. Obgleich seit dem Zweiten Weltkrieg keiner der Atomwaffenstaaten selbst angegriffen wurde, waren sie doch alle in Kriege verwickelt und haben sie manchmal sogar verloren, trotz ihrer Atomwaffen.
Inzwischen gibt es immer mehr Zweifel an der Wirksamkeit der Abschreckung, besonders gegenüber einem verzweifelten Regime, religiösen Extremisten oder terroristischen Gruppen. In solchen Fällen wäre eine Drohung mit Atomwaffen absolut nutzlos.
Dabei gab und gibt es noch immer Bestrebungen, das Prinzip der atomaren Abschreckung zu verlassen, um aus einem atomaren Schlagabtausch als Sieger hervorzugehen. Für einen entwaffnenden oder nicht vergeltbaren Erstschlag wurden entsprechende Technologien und Geräte entwickelt. Dazu gehören die Verbesserung der Zielgenauigkeit von Raketen, Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen, die U-Boot-Bekämpfung und Raketenabwehrsysteme.
Im Mai 1982 veröffentlichte der spätere Berater des US-Präsidenten Ronald Reagan, Colin S. Gray, einen Artikel in der Washington Post, in dem er ausführt: »Im Kontext eines Atomkriegs über die Sowjetunion sprechen, heißt, über einen bestimmten Zielkatalog sprechen… Nehmen wir an, es handelt sich um hundert Ziele. Wenn wir all diese hundert Ziele treffen könnten, würden wir jedes Mitglied des Politbüros erwischen, jedes Mitglied des Zentralkomitees, wir würden alle entscheidend wichtigen Bürokraten töten, wir würden also dem sowjetischen Huhn den Kopf abschneiden«. Und in den Verteidigungsrichtlinien von Caspar Weinberger, US-Verteidigungsminister von 1984 bis 1988, heißt es: »Sollte die Abschreckung versagen und ein strategischer Atomkrieg mit der UdSSR [Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken] ausbrechen, dann müssen die USA die Oberhand behalten und in der Lage sein, die UdSSR dazu zu zwingen, die Feindseligkeiten zum frühest möglichen Zeitpunkt zu für die USA vorteilhaften Bedingungen zu beenden.«
Natürlich versuchte auch die Sowjetunion, mit den waffentechnologischen Entwicklungen der USA Schritt zu halten.
Probleme der Abschreckungsdoktrin
Neben der Gefahr eines tatsächlichen Einsatzes von Atomwaffen bringt die atomare Abschreckung weitere Probleme mit sich:
- Die Abschreckungsideologie führt zur Weiterverbreitung von Atomwaffen, weil andere Staaten diese Politik nachahmen.
- Es gibt stets Druck, die Arsenale zu modernisieren und damit das Wettrüsten weiter zu treiben.
- Atomwaffen gefährden die ganze Welt, nicht nur einen Staat, und verletzen damit das humanitäre Völkerrecht.
- Abschreckung fördert eine feindliche Einstellung zwischen Staaten, verhindert die Zusammenarbeit für wirkliche Sicherheit und erhöht damit die Instabilität.
- Atomwaffen verursachen Gesundheits- und Umweltschäden bereits durch ihre Entwicklung und Herstellung.
General Lee Butler, ehemaliger Oberbefehlshaber der Nuklearstreitkräfte der USA, bewertete nach seinem Rücktritt von diesem Posten 1998 die atomare Abschreckung folgendermaßen:
„Der Glaube an Abschreckung brachte immer neue Generationen immer noch zerstörerischer Atomsprengköpfe und Trägersysteme hervor. Er führte zum Aufbau eines monströsen Verwaltungsapparates mit einem gigantischen Appetit und einer globalen Agenda. Er entzündete tiefste Gefühle, entfachte Fanatismus und Demagogie und setzte unkontrollierbare Kräfte in Gang. Und vor allem lebt im Namen dieses fortwährenden Glaubens und der Furcht, die mit ihm einhergeht, die Politik des Kalten Krieges fort und ihre Umsetzung, die strategisch überhaupt keinen Sinn macht. Dieser Glaube verursacht nach wie vor enorme Kosten und setzt die gesamte Menschheit unerhörten Gefahren aus. Ich finde das unerträglich.“ (Frankfurter Rundschau, 1.9.1999, S. 9.) (LL)
Bearbeitungsstand: Oktober 2004
siehe auch: Atomares Patt
siehe auch: Baruch-Plan
siehe auch: Erstschlag
siehe auch: Flexible Reaktion
siehe auch: Wettrüsten
siehe auch: Zweitschlagsfähigkeit