Atomwaffen A-Z

Schlesinger-Doktrin

Diese im Januar 1974 vorgestellte Atomwaffendoktrin wurde nach dem damaligen US-Verteidigungsminister James Schlesinger benannt. Das Ziel der Strategie war, die Eskalation eines Nuklearkonfliktes zu verhindern, indem statt des gesamten Atomwaffenarsenals nur eine begrenzte Anzahl von Kernwaffen bei einem ersten Militärschlag verwendet werden würde. Es sollte den Oberbefehlshabern also statt nur einer Option viele verschiedene bieten, um die Attacke der jeweiligen Situation anpassen zu können.
Bis 1961 besaßen die verschiedenen militärischen Bereiche der US-amerikanischen Streitkräfte jeweils eigene Pläne, die das Vorgehen bei einem Angriff regelten. Da diese aber kaum aufeinander abgestimmt waren, bestand die Gefahr des Eigenbeschusses und übermäßiger Gewaltanwendungen, der sogenannten Overkill-Kapazitäten.
Auf diesen Missstand wurde zu Beginn der 1960er Jahre mit dem ersten‚ einheitlich kombinierten Einsatzplan („Single Integrated Operational Plan“, SIOP-62) reagiert.  Dieser sah nun ein gemeinsames strategisches Vorgehen aller Bereiche des US-Militärs im Fall eines Atomwaffenangriffes vor. Die neue Strategie beschrieb einen so genannten „all-out plan“, bei dem in einem einzigen Militärschlag das gesamte Kernwaffenarsenal  gegen die UdSSR und China zum Einsatz kommen sollte. Die angegriffenen Länder sollten durch das schiere Ausmaß der Attacke weitgehend handlungsunfähig  gemacht werden und ein Gegenschlag durch das Zerstören gegnerischer Nuklearwaffen abgewendet werden.
In den frühen 60er Jahren entwickelten sich zunehmend Interkontinentalraketen zu den bevorzugten Trägersystemen atomarer Sprengköpfe. Da deren Auslösung aber binnen sehr kurzer Zeit möglich ist, wurde es nahezu unmöglich, sie noch vor dem Abfeuern im Feindesland zu zerstören. Gleichzeitig waren die Raketen zum damaligen Zeitpunkt jedoch noch so unpräzise, dass ein militärisch sinnvoller Einsatz nur gegen große Ziele, wie beispielsweise Städte, erfolgen konnte. Damit verlagerte sich der Fokus der Angriffe weg von militärischen Zielen hin zu zivilen. Die Folge dieser Entwicklung wird als „Gleichgewicht des Schreckens“ beschrieben: Ein Atomwaffenerstschlag wird dadurch verhindert, dass ein darauf folgender nuklearer Gegenschlag des Feindes immer noch einen Großteil der eigenen Bevölkerung und Infrastruktur auslöschen würde.
Bereits zum Ende der 1960er Jahre wurden die potenziell verheerenden Folgen dieser Abschreckungsstrategie auch auf höchster politischer Ebene in den USA diskutiert und eine Neuausrichtung gefordert. Nach dem Ende des Vietnamkrieges wurde James Schlesinger zum neuen Verteidigungsminister ernannt, der am 18. Januar 1974 schließlich eine neue Nuklearstrategie vorstellte. Mit ihr wurde die SIOP-62-Strategie abgelöst, die seit ihrem Inkrafttreten 1961 unverändert geblieben war.
Die neue Doktrin sollte die Eskalation eines Nuklearkonfliktes verhindern, indem bei einem militärischen Erstschlag nur eine begrenzte Anzahl von Atomwaffen verwendet werden würde. Den Oberbefehlshabern sollten mehr Optionen zur Verfügung stehen, um die Attacke der jeweiligen Situation anpassen zu können. Hierfür standen ihnen nun auch neue, kompaktere Atomraketen zur Verfügung, die präzisere Reaktionen ermöglichen sollten. Außerdem sollten wieder militärische Einrichtungen des Feindes als Hauptziele fungieren und eine möglichst geringe Zahl von ZivilistInnen als „Kollateralschäden“ erreicht werden. Hierzu wurde auch ein älteres Programm mit präziserer Angriffsoption reaktiviert, die B1-Bomber. Die neue Doktrin führte außerdem zu einer vermehrten Stationierung von Kurzstreckenraketen in Europa, die zwar aus Sicht Schlesingers für einen Gegenschlag ausreichen würden, aber nicht die totale Aggression eines „all-out plans“ darstellten.
Obwohl die Weiterentwicklung der Nuklearstrategie von der Öffentlichkeit überwiegend positiv aufgenommen wurde, kam es auch zu Kritik an dem neuen Programm. Die Veröffentlichung fiel in den Zeitraum der SALT I – Verhandlungen (Strategic Arms Limitation Talks) zwischen den USA und der Sowjetunion. Dabei kritisierte Leonid Breschnew das explizite Gegenschlagspotenzial der Atomwaffen im neuen Papier und sah außerdem die in den Verhandlungen gemachte Zusage Schlesingers, dass die USA nicht in atomare Erstschlagswaffen investieren würden, durch die Entwicklung von genau solchen Waffen in den Folgejahren gebrochen. jos (Quellen: Moral Principles and Nuclear Weapons, Success and Failure in Arms Control Negotiations)

Bild oben: James R. Schlesinger, Foto: US Department of Energy

 

Bearbeitungsstand: Januar 2018

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